Digitalisierungsbotschafter im Interview

(Bild: digitalesmv.de)

Herr Robert Friedrich interviewte im Rahmen seiner Masterarbeit zum Thema Digitalisierung im Vertrieb verschiedenste Interessensgruppen zum Thema Digitalisierung (Mai 2020). Bei Unternehmen wurde der Reifegrad der Digitalisierung und bei Studenten der Einsatz digitaler Technologien erfragt. Seine Zielsetzung bestand darin, ein aktuelles Meinungsbild vom Verständnis und Einsatz verschiedenster Digitalisierungsthemen zu gewinnen. In diesem Zusammenhang wurde auch Prof. Wißotzki befragt, der als Wirtschaftsinformatiker, Digitalisierungsbotschafter und Vorsitzender des InnovationPorts an zahlreichen Digitalisierungsprojekten beteiligt ist. 

Was bedeutet Digitalisierung?

In der Literatur beschreibt der Begriff Digitalisierung die elektronisch basierte Entwicklung und/oder Transformation von analogen Daten wie z.B. Text-, Bild- oder Toninformationen in eine computerlesbare Form, um neben der elektronischen Verarbeitung und Transaktion auch physische Güter (Instrumente, Geräte oder Fahrzeuge) zu erweitern, zu vernetzen oder neu zu entwickeln.

Jedoch ist die aktuelle Begriffsverwendung nicht mehr nur auf soeben beschriebenen Sachverhalt begrenzt, sondern beinhaltet auch die darunterliegenden bzw. darauf aufbauende digitalen Bausteine wie Infrastruktur, Informationssysteme, Daten, digitale Architekturen und Geschäftsmodelle, welche mit der Gesellschaft interagieren. Die damit freigesetzten digitalen Potenziale können u.a. mit steigender Transparenz, Qualität, Automatisierung, Mobilität, Globalität, Vernetzung, Integration, Algorithmik, Flexibilität und Skalierbarkeit beschrieben werden.

Welche digitalen Trends beobachten Sie aktuell in der Bildungsbranche? Können Sie Beispiele nennen?

Dazu habe ich bereits zu Beginn der Pandemie am 13.3.2020 berichtet "Die Digitalisierung des Bildungssystems nimmt Fahrt auf"

Wie verändert die Digitalisierung und damit einhergehende Automatisierung die Hochschulbildung in der Zukunft?

Grundsätzlich: Bei aller Digitalisierungs-Euphorie und dem daraus resultierenden Aktionismus (was ich beides sehr positiv einschätze) wird es auch weiterhin sowohl in der HS-Bildung als auch im unternehmerischen Umfeld nicht digitalisierbare Bereiche geben wie z.B. Führungskräfte-Seminare, partizipative Strategieworkshops o.ä. Letztendlich gilt hier die gleiche Herangehensweise wie bei allen anderen technologisch getriebenen Transformationsaktivitäten auch: Umso einfacher und standardisierbarer eine Sache ist z.B. Grundlagenstudium zum Wissensaufbau, umso mehr kann dort auf digitale/automatisierte Bildungsangebote zurückgegriffenen werden. Werden die Anforderungen hinsichtlich zwischenmenschlicher Kommunikation komplexer (z.B. im Strategischen-, Change- oder Transformationsmanagement) wird der automatisierbare Teil der HS Ausbildung eine untergeordnete Rolle spielen. Dennoch für beides gilt (unabhängig von den Ausbildungsinhalten) die Infrastruktur und Anwendungslandschaft für den Standardbetrieb der Studierenden & Mitarbeitern sollte hochwertig und den aktuellen technischen Standards entsprechen.

Wie bildet die „Hochschule von morgen“ Menschen aus, die in der Lage sein sollen, die erste Lösung zu schaffen, die dann anschließend automatisiert wird?

Ich weiß nicht genau, ob ich die Frage richtig verstehe, aber ich gebe Ihnen meine Interpretation. Meines Erachtens nach müssen die Studierenden nach dem Wirtschaftswissenschafts- Studium in der Lage sein ihre z.T. sehr komplexe Umwelt mit Hilfe verschiedener Methoden (je nach Situation) basierend auf einem soliden Wissens-Repertoire analysieren und bei Bedarf verändern zu können.

Ich kann nur für den Bereich der Wirtschaftswissenschaften / Wirtschaftsinformatik sprechen, aber es benötigt Methoden & Modelle um die immer komplexer werdenden Unternehmenssituationen zu erfassen, zu bewerten und verändern zu können. Wir setzten dafür u.a. Methoden für die Entwicklung und Veränderung von Unternehmensarchitekturen ein, welche z.T. auch die Entwicklung und Integration von (digitalen) Geschäftsmodellen und/oder Komponenten der Prozessmodellierung beinhalten. Die Automatisierung ist neben den bereits genannten digitalen Potenzialen ein Potenzial, welches mit diesen Methoden umgesetzt werden kann.

Wie werden Studenten in 2 Jahren studieren?

Anders, ich hoffe noch individueller und flexibler. So könnten sich die Studierenden vor Beginn des Studiums, je nach Interesse, die Module selbst zusammenstellen. Hinter der Auswahlmaske steckt ein Meta-Modell, welches darauf achtet, dass die Modulkombination in das Muster eine bestehende Akkreditierung der HS passt. Somit wird ein Studienabschluss wesentlich bedarfsorientierten auf die Studierenden zugeschnitten und auf Basis der Modulzusammenstellung/ Interessenlage definiert. Natürlich kann in diesem Szenario das bisher angewandte Modell bestehen. Hochrangig Eliteuniversitäten experimentieren bereits mit dieser rein modularen und bedarfsgerechteren Möglichkeit des Studierens.

Was ist für Sie "Innovation"?

Es kommt immer wieder vor, dass wir Innovation als ein ausschließlich auf die Zukunft gerichtetes Konzept interpretieren oder mit dem Begriff der Kreativität gleichsetzen, dies ist allerdings ein Missverständnis. Wolf Lotter beschreibt den Begriff "Innovation" in seinem gleichnamigen Buch als Prozess in welchem es vielmehr darum geht neue, unkonventionelle Ideen mit den wertvollen Erfahrungen/ Wissen zu verknüpfen, um mit den resultierenden Erfindungen einen positiven Wandel in der Gesellschaft herbeizuführen. In der Literatur wird auch häufiger von einem Zusammenspiel zwischen jung & alt gesprochen. Einer der Gründe warum Hochschulen seit jeher zu den Innovations-Hot-Spots sind (siehe Studierenden & Professoren) in unserer Gesellschaft zählen. So ist Innovation auch kein Wettkampf zwischen unterschiedlichen Generationen , sondern sollte vielmehr als eine Art Kooperation (von beiden Seiten) verstanden werden. Diesen Zusammenhang zu verstehen und zu nutzen, ist eine wesentliche Voraussetzung und gleichzeitig Herausforderung für ein innovatives und zukunftsorientiertes Umfeld, obwohl wir diesen Zusammenhang kennen.

Für wie innovativ halten Sie die Hochschule Wismar und woran ist dies erkennbar?

Aufbauend auf der oben genannten Interpretation des Innovationsbegriffs ist unsere Hochschule generell und in ihrer Gesamtheit als innovativ einzuschätzen. Bei einer differenzierten Betrachtung werden einige Bereiche wahrscheinlich innovativer sein als andere. Ich kann nur für mein eigenes Lehr- und Forschungsgebiet sprechen. Hier probiere ich die Ideen und Lösungsvorschläge unsere Studierenden, welche sie im Rahmen entsprechender Lehrveranstaltungen mit aktuellen Methoden entwickeln, in die unterschiedlichsten Projekte mit Unternehmen, Städten oder der Landesregierung einzubinden. In jüngster Vergangenheit waren wir im Bereich der Wirtschaftsinformatik damit recht innovativ:

Aber auch neue Institutionen wie das digitale Innovationszentrum "InnovationPort" wird die innovative Ausstrahlungskraft unserer Hochschule langfristig verstärken. Insbesondere die StartUp Unterstützung wird unsere Innovationskraft transparenter für Außenstehende machen. Hier haben wir in jüngster Vergangenheit mit dem Höhle der Löwen Auftritt von Hannes Mirow und Panthergrip oder aber mit den Gründungsideen von Matchfield Tactics, Lopero, my-scale oder BioCen punkten können. Alle diese StartUps werden durch unser Innovationszentrum unterstützt.

Befürchten Sie einen Rückgang an Studenten, sofern Sie die Hochschule keine Maßnahmen zur digitalen Transformation trifft bzw. diese stetig weiterentwickelt?

Ja, definitiv. Jedoch glaube ich nicht, dass es an der digitalen Transformation der Hochschule liegen wird, sondern vielmehr daran, dass wir den potenziellen StudentInnen zu wenig Perspektiven aufzeigen, was sie mit dem erlernten Wissen in einer zunehmend digitalen Welt anfangen können bzw. welche Perspektiven sie damit haben. In diesem Zusammenhang ist es m.E. nach sehr wichtig, dass wir entsprechende Erfolge kommunizieren. Dies ist einer Gründe warum ich mich so stark im digitalen Innovationszentrum engagiere, da wir dort eine zentrale Plattform für die Außendarstellung und Kommunikation von Innovationen und daraus resultierenden Erfolgen haben.

Als Digitalisierungsbotschafter Mecklenburg-Vorpommerns beraten und betreuen Sie Unternehmen in ihren Digitalisierungsvorhaben. Wie schätzen Sie den Beratungsbedarf von KMU zum Thema Digitalisierung allgemein ein? Wie schätzen Sie den Bedarf speziell in Mecklenburg Vorpommern ein?

Die Digitalisierung ist derzeit der wichtigste Grundbaustein wirtschaftlichen Wachstums. Moderne Unternehmen müssen aufgrund der zunehmenden digitalen Vernetzung, immer smarterer Automatisierungsmöglichkeiten, omnipräsenter Zugangstechnologien sowie dynamischen Kundenanforderungen zunehmend über ergänzende und neue digitale Prozesse nachdenken.  Die dazu notwendige fachliche Integration und dafür notwendigen Tätigkeiten prägen derzeit den Beratungsbedarf von KMU im Land. Voraussetzung ist natürlich, dass sich diese KMU Bereits für entsprechende technologisch getriebene oder bedingte Veränderungen entschieden haben. Ist dies nicht der Fall, dann muss zuvor eine entsprechende problemorientierte Bewusstseinsbildung und Akzeptanz der Mitarbeiter für technologische Erneuerungen auf GF Ebene geschaffen werden. Digital Transformation = Human Transformation - dies gilt für Unternehmen Gleichmaßen aber auch die Verwaltungen von Städten und Kommunen.

Was benötigt ein Unternehmen für das eigene Digitalisierungsvorhaben?

Die erfolgreiche Entwicklung und Integration digitaler Geschäftsmodelle erfordert ein hohes Maß an Agilität, welche nur dann ökonomisch gegeben ist, wenn die Auswirkungen von Veränderungen im Unternehmen oder die Entwicklung neuer Unternehmen zu jedem Zeitpunkt bestimmt werden können. Grundvoraussetzung dafür ist das Wissen um die Anatomie von Geschäftsmodellen, die für die Anpassung bzw. Neugestaltung notwendigen Fähigkeiten und die davon betroffenen Architekturen innerhalb und außerhalb des Unternehmens. Um diese Voraussetzung zu schaffen und verwalten zu können bedarf es einer Reihe von Techniken, Methoden und Werkzeugen, welche als Bestandteil neuer Managementansätze etablierte Disziplinen ergänzen: Innovationsmanagement, Entwicklung & Integration digitaler Geschäftsmodelle, Fähigkeitenmanagement, Unternehmensarchitekturmanagement gehören zu diesen Ansätzen und unterstützen Unternehmen bei der Erarbeitung und Dokumentation der aktuellen Unternehmenssituation bestehend aus Geschäftsmodell und die dafür notwendigen Architekturobjekte wie Abläufe, Strukturen und Produkte. Analyse digitaler Potenziale zur Ergänzung bzw. Erneuerung der Wertschöpfung Erarbeitung und Konkretisierung der Unternehmensstrategie zur Umsetzung digitaler Zielstellungen sowie Ableitung der dafür notwendigen Unternehmensfähigkeiten Ermittlung des Veränderungsbedarfs sowie Planung der für die digitale Transformation benötigten Architekturen.

Welche Hürden lassen sich bei Digitalisierungsvorhaben in Unternehmen erkennen?

Nicht vorhandene Fehlerkultur, die Macht von Routinen und Gewohnheiten der Führungskräfte und Mitarbeiter, Angst vor dem Neuen, fehlende Freiräume (dazu notwendig: Toleranz, Vertrauen, Vernetzung), der Versuch die Zukunft mit Methoden aus der Vergangenheit zu gestalten, um nur einige zu nennen. Letztendlich bleibt Innovation & Digitalisierung Chefsache und muss von dort in das Unternehmen getragen werden.

Welche häufigsten Fehler lassen sich bei Unternehmen in der Umsetzung von Digitalisierungsvorhaben identifizieren?

Akzeptanz von Routinen und Gewohnheiten in der Unternehmenskultur: Wenn wir uns an bekannten Mustern statt an Details orientieren können, kommen wir schneller voran und machen weniger Fehler. Jedoch übersehen wir Möglichkeiten für Erneuerungen und Anpassungsmöglichkeiten einer Organisation, was wiederum die Innovationskraft eines Unternehmens bremst und dieses sich nicht mehr oder im Verhältnis zu Wettbewerb zu langsam weiterentwickelt. Diese Situation würd spätestens in Extremsituationen aufgebrochen, da die Organisation dann zum Handeln gezwungen ist (siehe Finanzkrise 2008, Corona Pandemie 2020).

Wie beurteilen Sie den Stellenwert der Digitalisierung für Unternehmen in Krisenzeiten?

Aktuelles Beispiel: Viele Wirtschaftszweige wurden von der Corona-Krise 2020 unvorbereitet getroffen und bisher ist sowohl Dauer als auch Ausmaß nicht abzuschätzen. Das Positive: Wir reagieren nun zunehmend flächendeckend mit den uns zur Verfügung stehenden (technischen) Mitteln darauf. Vor Corona waren diese technischen Möglichkeiten bzw. diese unterschiedlichen Digitalisierungsthemen für viele Bereiche des täglichen Lebens keine zwingende Notwendigkeit. Zum Teil waren es Digitalisierungs-Ideen oder kleinere Projekte, welche die Kollision mit der Unternehmenskultur nicht überstanden hatten. In den letzten Wochen hat sich diese Sichtweise maßgeblich geändert (human transformation = die Situation bedingte einen Kulturwandel in den Organisationen). Es wurde noch nie so viel und so schnell flächendeckend "digitalisiert"  wie in den letzten Wochen. Vielen Branchen zeigt dieser Kulturwandel nun auch, dass Digitalisierung mehr als nur ein Wort ist und somit auch aus ganz unterschiedlichen Perspektiven gesehen/ bestehen kann z.B. Infrastruktur, Informationssysteme/ mobile Apps, Daten, digitale Geschäftsmodelle und Architekturen. Es ist nun auch klarer, dass diese unterschiedlichen Bausteine auf die jeweilige Unternehmenssituation individuell abgestimmt werden müssen und somit in ersten Initiativen oder Projekten auch nicht gleich etwas furchtbar Kompliziertes sein müssen und eher aufeinander aufbauen sollten. Individuell abgestimmt bedeutet, dass neben den zu definierenden Bedarfen (z.B. abgeleitet aus Herausforderungen, Problemstellungen, Ziele) auch die jeweilige technische Affinität (digitaler Reifegrad) der Unternehmen bzw. Personen berücksichtigt wird.  Die heterogene Zusammensetzung einer Branche aus Bedarfen und digitalen Reifegraden ist häufig der Grund dafür gewesen, dass Digitalisierungsinitiativen nicht mit der notwendigen Geschwindigkeit durchgeführt werden konnten.

Beispiel: Insbesondere in einem vom Tourismus geprägten Bundesland ist der analoge/physische Einzelhandel (Point-of-Sale) von den derzeitigen Einschränkungen stark betroffen - dies sind in MV über zehntausend Unternehmen unterschiedlichster Größe, digitaler Reifegrade und Bedarfe. So mussten z.B. viele gastronomische und handelsorientierte Einrichtungen schließen. In diesem Zusammenhang sollte in einem ersten Schritt die virtuelle Ladentür geöffnet und in weiteren Schritten entsprechende digitale Angebote aufbereitetet werden. Dies ist in letzten Wochen bereits geschehen und wird in den nächsten Wochen ggf. an Geschwindigkeit verlieren, aber die Digitalisierungsinitativen im Land werden nun mit anderen Augen gesehen und sind dementsprechend in ihrem Stellenwert wesentlich höher angesehen als vor der Krise.

Werden wir nach der Corona-Krise einen erhöhten Bedarf an Digitalisierungvorhaben verspüren?

Die Zeit nach Corona beginnt jetzt also während Corona, denn wenn z.B. der lokale Einzelhandel diese schwere Zeit nutzt, um sich mit den möglichen Initiativen auf der Plattform zu digitalisieren, dann haben wir nach der Krise ggf. eine starke regionale Handelsplattform für ganz Mecklenburg-Vorpommern geschaffen, welche nicht nur den Einwohnern, sondern sicherlich auch dem derzeit ausbleibenden Tourismus einen Mehrwert bieten wird. Ein weiterer Schritt in Richtung Smarte Küstenregion.

Seit wann beschäftigen Sie sich mit dem Thema Digitalisierung/Automatisierung?

Seit meinem Abitur habe ich immer mit Digitalisierungsthemen gearbeitet - somit relativ genau seit 20 Jahren.


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